Historie

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Hebamme gründet Gaststätte

Wie Mutter Wittig zu ihrem Namen kam.

1916 – mitten im ersten Weltkrieg – gab die Witwe Amelia „Emma“ Wittig ihren ersten Beruf als Hebamme auf und wurde Wirtin.
Der mutige Schritt der Urgroßmutter von Joachim Heer sollte die Familie drei weitere Generationen prägen. Die Gaststätte mit Namen „Restauration zur Altstadt“ befand sich im Erdgeschoss. Dort war auch eine Backstube ansässig.

Die Gäste der Wirtschaft banden ihre Pferde an eisernen Ringen am Haus fest, um bei „Tante Emma“ auf einen Schnaps und ein Glas Bier einzukehren. Der Schnaps wurde übrigens damals in Fässern geliefert und aus dem Keller zum Tresen gepumpt.

„Als Hebamme musste sie nachts oft allein durch die Stadt. Irgendwann wurde ihr das zu gefährlich und sie entschied sich, die Gaststätte zu übernehmen." Berichtete Urenkel Joachim Heer 2008 im Stadtspiegel.

„In Fünferreihen standen sie am Tresen“, so der Urenkel. Die Wirtin wurde mit den Jahren immer rundlicher und die Gäste gaben ihr den liebevollen Namen „Mutter Wittig“. Nach ihrem Tod 1932 mit 62 Jahren lenkte zunächst Tochter Mia die Geschicke der Gaststätte.

Historische Umbauten
Ab 1936 übernahm ihre Schwester Änne gemeinsam mit ihrem Ehemann Wilhelm Heer. Das Ehepaar gab der Wirtschaft in Gedenken an die Mutter und Gründerin ihren Namen: „Mutter Wittig“.

Im selben Jahr erstrahlte die Gaststätte in neuem Glanz. Die Westfälische Volkszeitung schwärmte über die gemütliche Stube mit rustikalen Holzmöbeln und die Glaskunst mit historischen Motiven in den Fenstern sowie in der beleuchteten Theke. Bereits Carl Arnold Kortum (1745-1824) sei zu Lebzeiten in einer Bierstube an gleicher Stelle Gast gewesen, heißt es in dem Artikel. Das war freilich lange bevor das Steinhaus hier erbaut wurde. Die Umbauten aus den 1930er-Jahren sind bis heute charakteristisch für das altehrwürdige Flair des Gasthauses.

Berufssoldat Werner Herr kehrt zurück

Tage zwischen Trümmern.

Im Verlauf des Zweiten Weltkrieges hielten die Gastleute Änne und Wilhelm Heer den Betrieb von Mutter Wittig lange aufrecht. Der Pfingstangriff 1942 verursachte zwar erste Beschädigungen am Haus, die wieder instand gesetzt wurden. Wilhelm Heer lagerte einige Möbel zwischenzeitlich zur Vorsicht ins Sauerland aus.

Die Zäsur folgte 1944:
Erst starb im September Wilhelm Heer und Wirtin Änne erlebte das Kriegsende evakuiert in Schlesien. Am 4. November zielte dann der große Bombenangriff auf Bochum: Die Innenstadt glich danach einem einzigen Trümmerfeld. Fast alle Gebäude wurden zerstört.

„Übrigens war das Haus nur dadurch gerettet worden, weil die Hausbewohner unerschrocken Brandbomben hinauswarfen und übergreifende Flammen löschten“, berichtete Werner Heer in einem Brief an die Hauseigentümer der Familie Weusthoff.
Doch der Angriff hatte Spuren hinterlassen. Als der Berufssoldat Werner Heer im August 1945 zurückkehrte, war die Gaststätte meterhoch mit Schutt gefüllt und der Keller voll Wasser gelaufen, weil eine Bombe die Kanalisation der Rosenstraße getroffen hatte.

Werner Heer watete in Badehose durch den Keller, um Kohlen zu holen und Else sammelte Holz aus den Trümmern, um den Herd anzufeuern. Das Paar schlief im Gesellschaftszimmer, nachts wimmelte es von Kakerlaken. Bereits nach einigen Tagen Aufräumarbeiten verkauften Else und Werner „ein bierähnliches Getränk“ von der Schlegel-Brauerei an einem Fass als Tresen. Im Herbst 1945 holten Werner Heer und sein Bruder Günther die Möbel aus dem Sauerland zurück.

Gemütliche Geselligkeit im Biergarten

Jahre des Wiederaufbaus.

Die Nachkriegsjahre sorgten auch bei Mutter Wittig für Aufschwung. 1948 wurde die Bleichstraße gebaut und an der Bongardstraße entstand der bis heute so beliebte Biergarten. Die Bochumer nahmen diese Neuheit begeistert an und genossen bei Mutter Wittig das gesellige Leben in der Innenstadt.

Zum Katholikentag 1949 wurde in die Mitte des Biergartens eine zarte Platane gepflanzt. Sie stammte von einem Friedhof und in einem Ast befanden sich noch Bombensplitter. Im Laufe der Jahrzehnte wuchs ein stattlicher und Schatten spendender Baum heran.

Bockbier im Angebot
Der Aufschwung in den 1950er-Jahren verhalf auch Mutter Wittig zu einem rentablen Geschäft. Die Getränke machten damals um die 90 Prozent des Umsatzes aus, das Speisenangebot war überschaubar: Frikadellen, Mettschnittchen, Soleier und kalte Koteletts. „Damals war unsere Gaststätte ein regelrechter Sauf- und Animierladen“, beschreibt Werner Heer in einem Brief. Der Wirt schenkte damals Bockbier zu niedrigen Preisen aus. Das Starkbier sollte die Arbeiter dazu ermuntern, länger als vorgesehen zu verweilen. „Mancher, der um 15 Uhr auf ein schnelles Bier hereingekommen war, stand um Mitternacht noch an der Theke“, berichtet Werner Heer. Auf der Herrentoilette gab es seinerzeit ein Speibecken und der Wirt hatte stets Sägemehl parat, falls die Übelkeit den Gast schon auf dem Weg zur Toilette übermannte. Bis 1957 hatte Mutter Wittig den Eingang an der Rosenstraße, seither liegt er an der Bongardstraße.

Speiseverkauf rettet Mutter Wittig

Wirtschaftskrise im Wandel.

Ende der 1960er-Jahre spitzte sich eine schwierige Situation für Mutter Wittig zu. Erstmals nach Kriegsende herrschte Arbeitslosigkeit. 1968 wurde die Mehrwertsteuer eingeführt und der zehnprozentige Bedienungsaufschlag verboten. Werner Heer war konfrontiert mit finanziellen Einbußen, die das Geschäft existenziell bedrohten.
Auch schon in den Jahren davor hatte sich die Welt gewandelt und den Umsatz mit Getränken zunehmend erschwert. Die Straßenbahn- und Omnibushaltestellen befanden sich zum Großteil nicht mehr direkt vor dem Haus.
Die Arbeiter erhielten ihre Löhne statt in bar jetzt per Überweisung. Und immer mehr Menschen fuhren Auto. Sie durften darum keinen Alkohol trinken.

„1969 stand ich vor der Frage, wie es weitergehen sollte. Ich war ziemlich deprimiert.
Die Menschen, die ich hätte um Rat fragen können, waren tot.

Werner Heer

In seiner geschäftlichen Krise versuchte sich Werner Heer kurzzeitig als Unternehmensberater. Doch er merkte schnell, dass diese Arbeit ihm fremd war. Auf Anraten von Kollegen der Branche stellte er die Gaststätte 1970 von der Schank- auf eine Speisewirtschaft um. Werner Heer investierte in die Küche und stellte einen Koch ein. Im Laufe der folgenden Jahre erarbeitete sich Mutter Wittig einen guten Ruf als erschwingliches Speiselokal.
Die Bochumer schätzten die einfache Küche mit traditionellen Gerichten wie Eintöpfe, Kartoffelsalat und Bockwurst oder Sülze.

Deutsch-britisches Paar schafft stilvolles Flair

Von hoher See in den heimatlichen Hafen.

Joachim Heer kam mit 14 Jahren von seiner Mutter aus Hamburg nach Bochum zum Vater. Er war das jüngste von drei Kindern und absolvierte seine Lehre im Haus Rechen. Als 19-Jähriger fuhr er zur See und arbeitete sieben Jahre als Steward „Joe“ auf Luxusdampfern wie der Hanseatic. Eines Tages strandete er in einem Hotel auf den Bahamas, wo er seine künftige Frau traf, die aus Bristol stammende Isabel Kay Johnston.

Auf Bitten des Vaters kehrte Joachim Heer 1973 nach Bochum zurück. Zunächst bewirtschaftete das Paar das Goldene U in der Brüderstraße und übernahm 1977 Mutter Wittig. Joachim Heer installierte eine moderne Küche und schwang selbst den Kochlöffel. Seine Frau managte den Service und nahm die Gäste im Empfang. Die Küche zeichnete sich durch gutbürgerliche Gerichte aus wie Sauerbraten, Spargel, Heringsstipp und Saisongerichte wie Wild, Gänsebraten oder Muscheln.

Isabel und Joachim Heer ersetzten das schlichte Holzmobiliar durch Polsterstühle und legten Tischdecken auf.

Die Meeresbrise, die Joachim Heer so lange umweht hatte, war nun auch bei Mutter Wittig zu spüren. Das Paar schmückte das Lokal mit Seefahrtsbildern und Schiffsmodellen.

Gläserweise Berliner Weiße
Bis in die 1990er-Jahre war der Biergarten ein wichtiger Anlaufpunkt für Nachtschwärmer.

„Was haben wir Berliner Weiße verkauft, zwanzig Gläser habe ich aufgebaut!“, erinnert sich Servicekraft Peter Kebrle, der seit 1980 bei Mutter Wittig arbeitet.
Doch mit der Zeit verlagerte sich das Nachtleben in das Bermudadreieck. „Der Biergarten ist in einem guten Sommer nur etwas Sahne auf dem Kuchen“, sagt Isabel Heer.

1995 richtete das Paar im Obergeschoss zwei Gesellschaftsräume für Feierlichkeiten ein. Ein trauriges Jahr für Isabel Heer war 2008, als ihr Ehemann Joachim starb. Die damals 68-jährige Witwe blieb bis 2021 Inhaberin der Gaststätte.

Mutter Wittigs denkmalgeschützte Fassade

Schmuckstück im Renaissancestil.

Bereits 1979 bemühte sich der Senior Werner Heer „im Interesse der Bochumer Bevölkerung“ um den Denkmalschutz für die Heimat von Mutter Wittig. Zehn Jahre vergingen, bis sein Wunsch sich erfüllte. Seit 1989 steht die schön verzierte Fassade des Gründerzeitbaus unter Denkmalschutz.

„Das Gebäude ist bedeutend für die Stadt Bochum, weil die Lage des Gebäudes selbst – an der Grenze zwischen mittelalterlichem Stadtkern und der ersten Stadterweiterung des 19. Jahrhunderts – Zeugnis für die Großstadtwerdung Bochums ist.
Erläutert die Stadt in ihrer Denkmalliste.

Bäckermeister war Bauherr
Die Fassade mit reichen Dekorationen im Renaissancestil hat kunsthistorischen Wert und gibt einen Eindruck von der herausragenden Bauweise privater Investoren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Fassade wurde mehrfach neu gestrichen, sodass sie heute ein einzigartiger Blickfang an der Bongardstraße ist.

Das Haus wurde zwischen 1870 und 1872 für den Bäckermeister Fritz Weusthoff gebaut, der dort fortan seine Backstube unterhielt. Bis November 2021 blieb das Gebäude anteilig in Besitz der Erbengemeinschaft Weusthoff. Die Gastwirte von Mutter Wittig waren lange Pächter und kauften später die Hälfte der Immobilie. Sie prägten die Gestaltung über hundert Jahre maßgeblich mit. Besonders beachtenswert sind die künstlerisch ausgeführten Fenster im Erdgeschoss der Gaststube, die Ansichten des historischen Bochum zeigen sowie die vormals in der Theke installierten und nun an den Wänden leuchtenden Glaskunstarbeiten der ehemaligen Kunstglaserei Behr mit den Motiven: Kuhhirtendenkmal und Engelbertbrunnen.

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